90 Jahre Zombie: Der Blueprint des Tiki-Genres

Daniel Huggins • 27. November 2024

Wie aus Donn Beachs Geheimrezept ein Statement der gehobenen Mixologie wurde!

Was ist dein Lieblingscocktail? Eine Frage, die wahrscheinlich nicht nur ich im Laufe meiner Karriere schon unzählige Male gestellt bekommen habe. Wenn ich etwas Erfrischendes möchte, ist es der Daiquiri. Wenn mir nach etwas Eleganterem ist, dann ganz klar der Martini. Gin. Verhältnis 3:1. Keine Garnitur. Wenn es aber darum geht, welcher Drink mich am meisten fasziniert, dann ist es ganz klar der Zombie. Ja, ihr habt richtig gelesen. Mir ist bewusst, dass dieser Drink jetzt nicht wirklich in diese Liste passt. Daiquiri und Martini leben beide von ihrer Simplizität. Der Zombie ist alles, aber nicht simpel! Obwohl sich der Zombie langsam aber sicher von seinem Ruf als kitschiges Rum-Saft-Gepansche erholt, sehe ich noch immer verdutzte Blicke, wenn ich ihn als einen meiner Lieblingsdrinks aufzähle. Und das kann ich den Menschen nicht einmal verübeln. Tatsächlich ist der Zombie für mich aber nicht nur das Paradebeispiel dafür, wie gut sich Menschen mit Aromatik auskennen können, sondern dient für mich als Blaupause des Tiki Genres. Ein Genre, das mich bis heute fasziniert.

 
Um zu verstehen, was der Zombie für mich repräsentiert, sollten wir uns etwas näher mit seinen Ursprüngen beschäftigen. Er wurde 1934 von Tiki-Legende Donn Beach AKA Donn The Beachcomber kreiert. Damit zählt er nicht nur zu den populärsten, sondern auch zu den ältesten noch heute existierenden Tiki-Drinks. Angeblich kreierte ihn Donn Beach spontan für einen Freund, der seinen Kater loswerden wollte – sozusagen von den Toten wieder auferstehen wollte. Schöne Geschichte, jedoch weiß man nicht, ob sich das exakt so abgespielt hat. Was sich allerdings mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass der Cocktail sich schon bald so großer Beliebtheit erfreute, dass allein dieser Drink maßgeblich zur Popularität des Tiki-Genres beigetragen hat. Und dass, obwohl es nur einen Menschen gab, der ihn mixen konnte. 

Wie einigen bereits bekannt ist, so umgaben die frühen Tiki-Größen, allen voran Donn The Beachcomber, sich und ihre Drinks mit einer Menge Mystery. So sehr, dass es aus heutiger Sicht fast lächerlich wirkt. Das Rezept eines Drinks so effizient wie möglich in Umlauf zu bringen, scheint der erste logische Schritt, hat man es darauf abgesehen, seine Kreation zu einem Klassiker avancieren zu lassen. Aber das war nicht das Ziel. Es ging darum, dass die Menschen zu dir kommen mussten, wollten sie einen bestimmten Drink haben. Um dies sicherzustellen, ergriff Beach drastische Maßnahmen. Niemand erfuhr das Rezept des Drinks, nicht einmal die eigenen Angestellten. Man wollte schließlich nicht, dass wenn jemand das Unternehmen verlassen sollte, diese Person den Drink anderorts replizieren kann. Paranoid? Vielleicht. Effizient war diese Vorgehensweise nichtsdestotrotz. 

Die Frage ist nur: Wie soll man einen Drink mixen, wenn man das Rezept nicht kennt? Ganz einfach: indem man spezielle Zutaten kreiert, diesen Codenamen gibt und den Bartenderinnen und Bartendern lediglich sagt, wie viel sie von dieser Geheimzutat zu verwenden haben. So clever Beach sich damals dafür auch gehalten haben mag; das war jedoch der erste Dominostein dafür, dass später einmal der Ruf des Zombies beinahe zerstört werden sollte. Denn nur weil man die genauen Zutaten nicht kannte, hat man sich natürlich trotzdem nicht davon abhalten lassen, zu versuchen, diesen Drink nachzubauen. Jeder wollte schließlich einen Zombie auf der Karte stehen haben. So entstanden in kürzester Zeit dutzende Versionen ein und desselben Drinks.
 
Ach ja, und „Consulting“ gabs da ja auch noch. Es wird niemanden verwundern, dass Beach als einer der bekanntesten Bartender seiner Zeit unzählige Anfragen bezüglich Cocktailmenüs und Barkonzepten bekam. Und wenn der bekannteste Tiki Bartender neben Trader Vic deine Cocktailkarte schreibt, dann willst du natürlich auch seinen bekanntesten Drink da draufstehen haben. Weil Beach das Originalrezept aber nicht verraten wollte, kreierte er selbst über die Jahre ein gutes Dutzend Variationen seines eigenen Drinks. Sodass man sich sicher sein konnte, dass wenn man irgendwie, irgendwo ein Zombierezept in die Finger bekam, es mit 99,99999%er Wahrscheinlichkeit nicht das Originalrezept war. 
Da man sich nun in der Situation befand, dass der Zombie zwar einer der beliebtesten Cocktails seiner Zeit war, aber niemand das Rezept kannte, wundert es auch nicht, dass irgendwann alles, was möglichst viel Rum enthielt und irgendwie exotisch wirkte als Zombie durchging. Und das wiederum sorgte dafür, dass der Zombie über die Jahrzehnte vom beliebtesten, zum verrufensten Tiki-Drink wurde. Und das nicht nur außerhalb der gehobenen Barszene, sondern vor allem innerhalb unserer kleinen Bubble. Und ich muss gestehen, als ich mich das erste mal mit diesem Drink im Zuge meiner beruflichen Laufbahn auseinandersetzte, war auch ich eher skeptisch. Zumindest bis ich das erste Mal das Originalrezept las.

Aber… warum gibt es überhaupt ein Originalrezept? Naja, natürlich dank Jeff „Beachbum“ Berry! Wem auch sonst? Tiki-Experte und Autor Jeff Berry hat mehr für das Revival dieses Genres getan als irgendjemand sonst. Und Berry war es auch, der es nach jahrelangen Bestrebungen irgendwann tatsächlich schaffte, ein Original Zombie Rezept in die Finger zu kriegen.

1934 Zombie:

4,5cl puerto-ricanischer Rum
4,5cl jamaikanischer Rum
3cl Overproof Demerara Rum (Guyana)
1,5cl Falernum
1,5cl Donn’s Mix
2,25cl Limettensaft
1 Barlöffel Grenadine
1 Dash Angostura
6 Tropfen Pernod

Jetzt ist es so: man kann sich natürlich erstmal selbst dafür feiern, ein Rezept entdeckt zu haben, welches seit über einem halben Jahrhundert als verschollen galt. Man kann sich aber auch übertrieben darüber aufregen, dass man keine Ahnung hat, was zur zugefrorenen Hölle „Donn’s Mix“ sein soll. Ich schätze Jeff Berry tat beides. Zum Glück, denn das führte dazu, dass er weitergrub, bis er eines Tages die Lösung in den Händen hielt. Bei Donn’s Mix, der ominösen Geheimzutat Beachcombers, handelte es sich um zwei Teile weißen Grapefruitsaft und einen Teil… Spices No.4. Ich versetze mich gerade in Berrys Lage und sehe mich dabei, wie ich mit einem puppenhaften lächeln und leeren, toten Augen meinen Laptop so hart gegen die nächste Wand werfe, dass ich in Zukunft meinen Nachbarn beim Frühstücken zusehen kann. Wie dem auch sei. Zu unser aller Glück hat Berry mehr Geduld als ich und zum Glück zahlte sich diese auch aus. Als Berry nämlich irgendwann herausfand, dass sich hinter Spices No.4 nichts anderes als Zimtsirup verbarg, war man das erste mal in der Lage, ein Original Zombie zu mixen. 
Das war aber nicht alles. Unter allen Zombierezepten, die zu finden waren, gibt es eines, welches durch Berrys Fund schlagartig mehr Aufmerksamkeit erlangte: 

Zombie (unbekannter Ursprung)

-2,25cl Aged jamaican Rum
-2,25cl Demerara Overproof Rum
-2,25cl puerto-rican Rum
-2,25cl Limettensaft
-2,25cl weißer Grapefruitsaft
-2,25cl Zimtsirup
-1 Dash Angostura Bitters
-1 Barlöffel Zombie Mix*
*Zombie Mix: gleiche Teile Falernum, Dry Curacao, Grenadine, Absinth o. Pastis

Wenn man diese Rezepte vergleicht, nachmixt und parallel probiert (was ich jedem einmal empfehlen würde), dann wird einem etwas auffallen. Die zweite Version, deren Ursprung man heute bei Donn Beach selbst vermutet, ist weniger eine Abwandlung, als vielmehr eine Art „natürliche Weiterentwicklung“ des Originalrezepts. Die Zutaten sind beinahe dieselben, allerdings ist das Geschmacksprofil klarer und ausgeglichener und obwohl es sich hier noch immer um einen starken Drink handelt, ist der Alkoholgehalt zumindest nicht mehr so komplett gestört wie in der 1934er Version. Deshalb halte ich die zweite Version für die beste. Wenn ich nun also behaupte, der Zombie sei mein Lieblingscocktail, meine ich diese Version. Allerdings kann man alle folgenden Aussagen, auf beide Versionen beziehen. Schauen wir uns mal an, warum ich diesen Drink für so genial halte:

Der Zombie zeigt, wie Tiki Drinks funktionieren, und worum es dabei geht. Ich wage es mal, mich ganz weit aus dem Fenster zu lehnen und zu behaupten, dass es die Tiki Bewegung war – insbesondere Donn Beach – die als erste verstand, wie man das breite Publikum und Cocktailnerds gleichermaßen abholt. Auf den ersten Eindruck ging es um Eskapismus, tropisch-spaßige Drinks und exotischen Genuss. Man kann nachvollziehen, warum das großen Anklang bei der breiten Masse fand und was ich selber davon halte, habe ich in meinem Artikel über Cocktailschirmchen ja bereits deutlich gemacht. 
Unter der Oberfläche geht es bei Tiki aber noch um etwas ganz anderes: Komplexität. Der Zombie zeigt nicht nur, wie viel Gedanken sich Beach über seine Drinks gemacht hat, sondern auch, welch außergewöhnliches Verständnis er von Aromatik hatte und wie weit er damit seiner Zeit voraus war! Hört sich übertrieben an? Ich glaube ich sollte das etwas genauer erläutern: 

Wie die meisten Tiki Drinks, so basiert auch der Zombie auf der uralten Punch-Formel: 

eine Spirituose
eine süße Zutat
eine saure Komponente
ein Filler 

Letzterer kann Saft oder Soda sein, im weiteren Sinne aber auch Schmelzwasser. Wahlweise können diese vier Grundzutaten nun durch Gewürze und/oder Bitters ergänzt werden. Und jetzt wird es spannend. Und nerdig. Aber vor allem spannend! Dieser simplen Formel wird bei Tiki Komplexität verliehen, indem man die einzelnen Komponenten in mehrere aufsplittet. Was meine ich damit? Nun, sehen wir uns den Zombie doch mal an:

Die Spirituose wird aufgesplittet in drei verschiedene Rum-Sorten. Statt nur einen Rum zu verwenden, verwendet man einen Rum aus Jamaika, der mit seinem funky Geschmacksprofil die Basis bildet. Dieser wird ergänzt durch einen puerto-ricanischen Rum, der mit seinem vergleichsweise neutraleren Geschmacksprofil dafür sorgt, dass der Rum nicht alle anderen Zutaten überschattet, wie das der Fall wäre, würde man 6 bzw. 9cl Jamaika-Rum verwenden. Der Rum aus Guyana ergänzt die Basis, indem er eine schöne Kante beisteuert. Durch das typischerweise sehr würzige, fast schon rauchig-erdige Geschmacksprofil von Demerara Rum (Guyana) eignet sich dieser perfekt dafür.

Die Säure wird aufgesplittet in Limettensaft und weißen Grapefruitsaft. Letzterer hat zwar eine deutlich mildere Säure, dafür aber einige spannende Bitternoten und eine angenehme Fruchtigkeit.

Sieht man sich nun die bekanntesten Tiki Drinks an, so wird einem oben beschriebenes Muster immer wieder auffallen. Was dafür für ein Verständnis seiner Zutaten, insbesondere der verschiedenen Rumstile, von Nöten ist, brauche ich wahrscheinlich niemandem zu erklären.

All diese Gedanken stecken hinter einem Zombie. Und das zu einer Zeit, als man in Europa einen Sidecar mit Gin anstelle von Cognac machte, das ganze White Lady nannte und den Drink für Jahre als den letzten Schrei ausgeben konnte. Wenn man mich nun also fragt, warum der Zombie einer meiner absoluten Favoriten ist, dann nicht nur weil er für mich der Blueprint der Tiki-Cocktails ist. Sondern weil er für mich ein Statement der Mixologie ist, weil er Spaß und Spannung vereint und zeigt, wie genial manche Menschen sind. Und die Tatsache, dass dieser Drink heu Jahr schon 90 Jahre alt geworden ist, erfüllt mich mit Demut und Respekt.

von Daniel Huggins 17. Februar 2025
Die Szene erlebt immer wieder Wandel. Trends kommen und gehen. Neue Stile erobern fortlaufend die Bar-Welt. Doch nun, zum ersten Mal seit knapp 200 Jahren, könnte sich die Art und Weise, wie wir an Drinks herangehen, komplett verändern! Als ich Mitte der 2000er begann mich mit Cocktails und Drinks zu beschäftigen, war es der sogenannte Cuisine-Style, der sich allmählich etablierte und auch mir eine vollkommen neue Perspektive von Drinks aufzeigte. Da die meisten Cocktails eine beachtliche Menge Zucker enthalten, war es bis dato logisch, dass man sich bei der Kreation von Drinks auf Zutaten fokussiert hat, die man mit Süße in Verbindung bringt: Obst, Nüsse, Schokolade. Der Cuisine-Style sollte seinerzeit mit dieser Herangehensweise brechen. Kräuter, Gemüse, Kerne und vieles mehr fand nun mithilfe moderner, kulinarischer Techniken seinen Weg ins Glas. Ich hatte also das Glück in einer Zeit mit der Kreation von Drinks zu beginnen, in der frische und hochwertige Produkte im Fokus standen und es nahezu keine Zutat gab, die undenkbar gewesen wäre. Zugegeben, die „seltsamen“ Zutaten seinerzeit waren meistens Kräuter und Gurken, jedoch sah man hier und da auch ein paar gewagtere Experimente. Und heute, in den 20er Jahren, hat sich der Cuisine-Style weiterentwickelt. Das Publikum ist dank 20 Jahre schrittweisem Heranführen an diese Thematik offener geworden. Der Vorzeigedrink dieses Stils, der Gin Basil Smash, ist mittlerweile zu einem absoluten Klassiker avanciert und die meisten Gäste zucken nicht einmal mehr mit der Wimper, wenn sie von Zutaten wie Rosmarin oder Chili lesen. Techniken wie Sous Vide sind längst nicht mehr nur der Küche vorbehalten und das Arbeiten mit frischen Produkten und hausgemachten Zutaten gehört in unserem Teil der Branche ohne Zweifel zum guten Ton. Vorhang auf für die Welt der Savory Drinks! Die immense Popularität, die Bars momentan Erfahren, welche sich auf diese Art von Drinks spezialisiert haben, spricht für sich: The Savory Project (50 Best Bars – No.82), Himkok (50 Best Bars – No.11), Double Chicken Please (50 Best Bars – No.14), um nur einige zu nennen. Aber was sind „savory“ Drinks überhaupt? Was grenzt den Savory-Style vom Cuisine-Style ab und warum macht man das ganze überhaupt? Fangen wir erstmal ganz von vorne an: Es gibt die Klassischen Cocktails – Old Fashioned, Sazerac, Martini, etc. Diese basieren auf Süße mit dem meist dezenten Einsatz von Bitterstoffen. Bei den meisten anderen Drinks, welche zu 99% in irgendeiner Form vom klassischen Punch abgeleitet wurden, behilft man sich zudem einer Säure, um zusammen mit dem Zucker eine harmonische Balance zu schaffen. Auch jene Drinks, die dem Cuisine-Style zuzuordnen sind, kann man in eine dieser Sparten schieben – selbst, wenn sie Zutaten enthalten, die man normalerweise mit herzhaften Speisen in Verbindung bringt. Was macht nun aber den Savory-Style so besonders? Bisher basierte jeder Drink auf einer Balance aus Süße und Säure/Bitterstoffen, oder aber mindestens auf einer dieser drei Komponenten. Der Savory-Style öffnet die Tür für die zwei fehlenden Geschmäcker: Salz und Umami. Hier gilt es nun, alle diese Komponenten in Einklang zu bringen. Wir sind nicht mehr darauf beschränkt, unsere Drinks auf der klassischen Kombination aus Süße und Säure aufzubauen. Wir können nun Drinks auf Salz oder Umami basieren lassen, oder die klassische Süße-Basis mithilfe von Salz statt Säure (oder einer Kombination der Beiden) ausbalancieren. Kurz gesagt: wir jonglieren nun mit fünf anstelle von drei Bällen. Natürlich ist der Einsatz dieser geschmacklichen Komponenten nichts neues. Der Dirty Martini ist wohl das Paradebeispiel für einen Drink, der Zucker gekonnt durch Salz ausbalanciert. Dann gäbe es da noch die Bloody Mary, die Umami mit ins spiel bringt oder den Gibson, der neben Zucker und Salz noch auf Essig als alternative Säurequelle setzt. All diese Drinks waren ihrer Zeit wohl weit voraus. Das stieß nicht immer auf Verständnis. Immer wieder äußerten sich namhafte Personen der Barszene negativ über diese Drinks. Aber nun scheint die Zeit gekommen zu sein, um solche Drinks in den Fokus zu stellen und einem breiteren Publikum schmackhaft zu machen. Sehen wir uns nun einmal an, welche Möglichkeiten wir haben, mit dem Savory-Style zu experimentieren: Als Erweiterung des Cuisine-Styles sind natürlich auch hier zunächst Zutaten zu nennen, die bisher eher in der Kategorie Teller statt Glas zu verordnen waren – egal ob es sich nun um Kräuter oder Gemüse handelt. Und da mittlerweile Techniken für uns alltäglich geworden sind, die vor knapp 20 Jahren alles andere als gang und gäbe waren, steht die Tür für viele weitere Zutaten offen. Wir können nun die verschiedensten Aromen mithilfe von Vakuumdestillation in unsere Drinks integrieren. Wir können Umami und Milchsäure mittels Fermentation freisetzen. Wir können alle Arten von Milchprodukten mittels eines Milk-Punch in eleganter Form verarbeiten. Wir können stärkehaltige Zutaten wie Kartoffeln mithilfe von Enzymen aufschließen. Dazu kommt der gezielte Einsatz von Milchsäure, Essigsäure und Weinsäure, um die Säurestruktur unserer Drinks komplexer zu machen. Und eine Salzlösung steht mittlerweile auch in jeder Bar, um unseren Drinks noch den letzten Schliff zu verleihen. So beschränkt sich der neue Savory-Style eben nicht nur auf Gibson-Varianten und Sours mit Kräutern. Die Möglichkeiten sind zahlreich. Und auch wenn ich mir absolut sicher bin, dass dies in Zukunft zu unzähligen ungenießbaren Drinkkreationen führt, weiß ich auch, das auf lange Sicht Cocktails entstehen werden, die die Kunst hinter der Mixologie auf eine völlig neue Weise veranschaulichen werden! Abschließend möchte ich verschiedene Herangehensweisen an dieses Thema an einigen meiner Lieblingsbeispiele verdeutlichen.
von Daniel Huggins 6. Oktober 2024
Ich mache meine Zutaten selbst. Allein schon deshalb, weil ich neugierig bin und mit neuen Technologien und Techniken experimentieren möchte. Das ist schließlich großer Teil dessen, warum ich meinen Job liebe. Und obwohl ich in meiner Vergangenheit nie wirklich das war, was man einen typischen Nerd nennen würde, bin ich im Zuge meiner beruflichen Laufbahn definitiv einer geworden. Ganz beiläufige Konversationen drehen sich darum, welche Art von Ferment man wohl am besten in einem bestimmten Drink verwenden sollte, oder darum, welche Enzyme bei welcher Temperatur arbeiten. Dem 18-jährigen Danny wären wahrscheinlich die Augenbrauen in den Haaransatz gerutscht, hätte man ihm erzählt, welches Skillset er einmal haben würde. Teils, weil ich damals natürlich am Anfang meiner Karriere stand und noch nicht einmal wusste, wie man „Fermentation“ buchstabiert, teils, weil die Szene damals allgemein noch auf einem ganz anderen Stand war. Natürlich gab es die meisten Techniken schon zu Beginn des Jahrtausends, allerdings war die Zahl der Menschen, die sie wirklich beherrschten, um ein Vielfaches geringer als heute. Roses Lime Juice stand nicht in jeder Bar, weil es das beste Produkt des Jahrhunderts war, sondern weil viele dich wahrscheinlich für komplett verrückt gehalten hätten, wenn du behauptet hättest, ein vernünftiges Limettencordial zu machen sei eine der einfachsten Sachen überhaupt.
von Daniel Huggins 4. September 2024
Das Cocktailschirmchen bildet zweifelsohne das Ende des Garnish-Spektrums: ein Spektrum, das mit der dezenten und zeitlosen Zitruszeste beginnt und sich über Wälder von Kräutern, Obst-Dschungel voller Bananendelfine und Ananaspapageien bis hin zur nicht essbaren Deko voller Mini-Wäscheklammern und Spiraltrinkhalmen erstreckt. Darunter, am traurigen Ende des Trashs, befindet sich ein kleiner, bunter Schirm, der das Garnish-Äquivalent zur Schwimmnudel darstellt. Es hat nie wirklich eine Funktion gehabt, keiner weiß mehr, warum es das Teil überhaupt gibt, und heutzutage kann man es zwar benutzen, muss man aber nicht. Trotzdem bin ich heute hier, um für den dekorativen Sonnenschutz eine Lanze zu brechen. Es stimmt, Sinn macht das Ding nicht wirklich. Und das ist in der heutigen Zeit fast schon ein K.-o.-Kriterium, wenn selbst die Orangenzeste auf deinem Drink mindestens eine Hommage an den Orangenbaum der Großmutter des Schöpfers darstellen muss. Aber trotz des trashigen Rufs des Cocktailschirmchens, hält es sich außerhalb der High-Class-50-Best-Bubble bis heute hartnäckig. Ich denke, das ist auch der Grund, warum es für jeden, der sich hauptsächlich mit diesem Teil der Bar-Welt beschäftigt, automatisch als Zeichen für mindere Qualität gilt. Dass ich mir dennoch die Mühe gemacht habe, die Geschichte des Cocktailschirmchens ausführlich zu recherchieren, ist entweder ein Indiz dafür, dass mehr hinter dem faltbaren Compagnon steckt, als man denkt, oder dafür, dass ich einfach nur zu viel Zeit habe. Finden wir es heraus. Den Ursprung des Schirmchens vermutet man in den USA der frühen 30er Jahre. Dort fand es bald seinen Weg in die aufkommende Tiki-Szene, auch wenn seine Abwesenheit auf Cocktailkarten früher Tiki-Größen wie Don The Beachcomber ein Indiz dafür sein könnte, dass es zunächst etwas verhalten seinen letztendlichen Siegeszug begann. So richtig durch die Decke ging der Schirm nämlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als auch die Tiki-Szene geradezu explodierte. Seitdem ist das Cocktailschirmchen untrennbar mit der exzessiven Deko tropischer Tiki-Drinks verbunden. Dennoch verweist mein Archiv auf keinen Cocktail, bei dem der Schirm festgeschriebener Bestandteil der Garnitur ist. Das und die Tatsache, dass das Schirmchen gleichzeitig mit der Tiki-Kultur wieder von der Bildfläche verschwand, bringen mich zu einem einzigen Schluss. Schirmchen, sowie bunte, exotische Drinks wurden und werden nicht in einen Topf geworfen, weil das eine nicht ohne das andere kann, sondern weil beide denselben Zweck erfüllen: Tagträumerei. Eine Flucht in sonnige Gefilde und Gedanken voller tropischer Sinneseindrücke; der Geruch von frischer Minze, das Rauschen der Wellen, begleitet vom Ruf der Seemöwen bei lauschigen 30° im Schatten, während der Geschmack von exotischen Früchten, gepaart mit würzigem Rum den Gaumen benetzt. Und in der Kokosnuss, aus der du deinen Passion Fruit Daiquiri schlürfst, steckt ein kleines, buntes Schirmchen. Braucht es einen anderen Sinn? Muss eine Garnitur wirklich einen anderen Zweck erfüllen als das? Mir ist bewusst, dass ein Mai Tai und ein redestillierter und mit fermentiertem, argentinischen Hochlandgras infusionierter Martini-Twist unterschiedliche Ziele haben. Aber würde es mich wirklich stören, wenn in Letzterem ein kleines Cocktailschirmchen stecken würde? Vielleicht ist es einfach nur mein verdrehter Sinn für Humor, aber mich würde das durchaus amüsieren. Und deshalb möchte ich mich nun für das Schirmchen - und im gleichen Atemzug womöglich für alles Mögliche an Kitsch - aussprechen. Während in vielen Bars das Schirmchen zwar ein Zeichen dafür ist, dass die Bar-Leitung eventuell etwas hängen geblieben ist, steht es für mich dafür, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Loszulassen. Spaß zu haben. In einer Zeit, in der Rotavaps und Minimalismus die Szene regieren, ist das eventuell wichtiger denn je. Versteht mich nicht falsch. Das soll keineswegs ein Angriff sein. Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich meine Zeit mit Laborequipment, unzähligen Säurepulvern und mit dem Taschenrechner erstellten Cocktailrezepten verbringe. Aber bis auf einige Ausnahmen habe ich das Gefühl, dass uns der Spaß an der Sache etwas verloren gegangen ist. Die Oldschool versucht in weißen Barkitteln krampfhaft zu beweisen, dass die klassisch-elegante Barkultur des vergangenen Jahrhunderts immer noch der einzig richtige Weg sei, während die New School sich in hunderte von im Labor kreierten Drinks verkopft, die alle gleich aussehen und von denen man die Hoffnung hat, dass sie einem möglichst viele Awards bescheren. Deshalb braucht es meiner Meinung nach so etwas wie das Cocktailschirmchen. Die Frage ist nur: Wie muss ich es einsetzen, damit es funktioniert und nicht trashig wirkt? Eines ist klar: Der Schirm stellt eine geistige Hürde dar. Werte ich meinen minutiös zubereiteten Drink dadurch nicht ab? Kommt drauf an. Ich finde, dass er funktionieren kann, wenn er deutlich erkennbar mit einem metaphorischen Augenzwinkern serviert wird. Wenn spürbar ist, dass Drinks, Ambiente und Service mit Sorgfalt und Bedacht behandelt werden. Sprich, wenn das Cocktailschirmchen bewusst gewählt wirkt und nicht als random Item daher kommt, nur verwendet, weil man von der letzten Beach-Party noch zwei Kartons davon im Keller liegen hat. Ich verstehe alle, die sich jetzt fragen, warum sie dies tun sollten. Was, wenn es bei dir und deiner Bar nicht um Urlaubs-Feeling und Eskapismus geht? Naja… ich bin der Meinung, dass es das sehr wohl tut. Vielleicht nicht zwangsläufig im Sinne von Sommer, Sonne, Strandurlaub. Aber der durchschnittliche Gast geht mit der Intention in eine Bar, die Alltagssorgen einmal für ein paar Stunden zu vergessen, oder nicht? Wenn er dabei noch etwas über Fermentation und seltene südostasiatische Zutaten lernen will, ist das zwar klasse, jedoch nicht ausschlaggebend. Das sind sekundäre Merkmale, die man dazu nutzen sollte, ein Konzept zu konkretisieren und eine klare Zielgruppe zu definieren. Den Wunsch nach einer erholsamen Freizeitbeschäftigung haben wir jedoch alle gemeinsam. Wie man dieses Feeling kommuniziert, kann natürlich variieren. Für die Einen sind das die entspannten Klänge eines Jazzpianos, während man genüsslich an seinem Manhattan nippt. Für die Anderen sind das Bar-Teams in Pandakostümen, die aus Bambusrohren Faceshots verteilen. Für wiederum andere Menschen - und dazu zähle ich mich selbst - braucht es manchmal gar nicht mehr, als einen kleinen, bunten Papiersonnenschirm.
von Daneil Huggins 2. September 2024
Technisch gesehen ist ein Cocktail ein gemischtes Getränk aus einer Spirituose, einer süßen und einer bitteren Zutat. Im modernen Verständnis der Leute kann der Begriff „Cocktail“ jedoch auf nahezu jede Art von gemischtem Getränk angewendet werden. Als jemand, der die Geschichte von Cocktails eingehend studiert hat, sich mit jeder erdenklichen Bartechnik beschäftigt hat und sein ganzes Leben dem Verständnis von geschmacklichen Korrelationen gewidmet hat, kann ich dieser modernen Definition nur zustimmen. Aber ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Ein Cocktail ist so viel mehr, als die Kombination von drei Komponenten. Ein Cocktail ist lebendig. Er hat die Möglichkeit, uns geschmacklich in längst vergangene Situationen zurückzuversetzen. Er zeigt einem bei jedem Schluck aufs Neue, dass ein Ganzes größer als die Summe seiner Einzelteile sein kann. Richtig gemixt, ist ein Cocktail der Unterschied zwischen legalem Drogenkonsum und wahrem Genuss. Bei Cocktails geht es darum, neue Geschmäcker und Aromen zu entdecken oder sich in bereits bekannten erneut zu verlieren. In einer Welt, die immer komplizierter, hektischer und abgefuckter zu werden scheint, ist hin und wieder ein kleines bisschen Genuss vielleicht genau das, was uns davon abhält, durchzudrehen. Etwas, das uns zumindest für einen kurzen Moment erdet: Der Martini, den man trinkt, während man aus dem Fenster schaut und merkt, dass ein verregneter Sonntagabend etwas Magisches haben kann. Der Manhattan, der die perfekte Veredelung für einen Herbstabend vor dem Kaminfeuer ist. Der Daiquiri, der einem heißen Sommerabend den letzten Schliff verleiht. Die Mimosa, die uns daran erinnert, dass es nicht so schlimm ist, wenn man ab und zu bereits am Mittag den Fuß etwas vom Gas nimmt. Mir ist bewusst, dass Genuss viele Formen haben kann und diese wahrscheinlich für jeden Menschen anders sind. Aber nach so vielen Jahren, in denen ich täglich über Piña Coladas, Old Cubans und Co. nachgedacht habe, ist es nur logisch, dass ich nicht umhin kann, den Genuss von Cocktails ein wenig zu romantisieren – unabhängig davon, ob es sich um einen Cocktail mit oder ohne Alkohol handelt. Ich möchte meinen Beitrag dazu leisten, dass mehr Menschen die Chance bekommen, das Konzept des Cocktails so zu erleben, wie ich das Glück habe, es seit über einem Jahrzehnt täglich meinen Gästen vermitteln zu dürfen. Deshalb habe ich diesen Blog gegründet und deshalb werde ich auch in Zukunft alles daransetzen, weiterhin außergewöhnliche Rezepte zu kreieren. Ich bin Danny Huggins und ich heiße euch herzlich willkommen zu Bittersweet & Stirred. Nach über 15 Jahren in der Gastronomie und über einem halben Jahrzehnt davon hinter dem Tresen einer der führenden Bars unseres Landes ist nun für mich der Zeitpunkt erreicht, an dem ich meine Erfahrungen mit euch teilen will. Ich werde spannende Entwicklungen der Szene beleuchten, über Drinks und Zubereitungstechniken sprechen, euch an besonderen Momenten teilhaben lassen und generell über alle Themen schreiben, die mich persönlich faszinieren. Eines steht fest: Die Gastronomie schreibt Geschichten, wie sie sonst nur das Leben selbst schreiben könnte. Ich freue mich auf jeden von euch, der mich auf meiner Reise begleitet und wünsche viel Spaß! Cheers!